Presseberichte



Die heilende Kraft der Märchen

Ob nach einem Schlaganfall, beim Stottern oder Sterben: Märchen schenken bei vielen Krankheiten eine neue Lebensqualität

Immer wieder schlägt ein Patient der Psychiatrie in Schleswig seinen Kopf an die Wand, bis Blut durch die Haut dringt. Doch plötzlich – ganz ohne Medikamente – findet der Mann Ruhe und Frieden, hält seinen Kopf still, eine ganze Stunde lang. Ebenso plötzlich hebt ein schwer an Demenz Erkrankter, der seine Umwelt kaum noch wahr nimmt, seinen gesenkten Kopf nach oben, folgt aufmerksam den Worten, sucht den Blickkontakt zum Erzähler. In beiden Fällen staunt das medizinische Personal, in beiden Fällen haben Märchen diese sichtbare Wirkung ausgelöst, erzählt von Klaus Dörre. „Märchen lösen Intensives aus. Wie das funktioniert, wissen wir nicht, aber ich erlebe es fast jeden Tag“, sagt der Erzähler, der seine Worte oft musikalisch auf dem Monochord begleitet.

Seit mehr als 20 Jahren sind Märchen der Beruf von Klaus Dörre und seiner Ehefrau Edith, die Märchentherapeutin ist. Im kleinen Dorf Neukirchen an der Flensburger Förde haben die Dörres ihr Märchenatelier, die „Grüne Schlange“. Die meiste Arbeitszeit verbringt Klaus Dörre aber im ganzen Land, mittlerweile sogar in ganz Deutschland, um Märchenerzähler auszubilden, Menschen aller Altersgruppen selbst als Erzähler zu fesseln und in den vergangenen Jahren vor allem auch, um Angebote und Fortbildungen zu entwickeln, wie Märchen als Therapie genutzt werden können.

„Die Seele versteht die Bilder und Symbole der Märchen, ohne dass der Verstand sie erkennt“, sagt Klaus Dörre. Denn in Märchen stecke eine über Jahrhunderte genährte Quelle an Lebens-Weisheiten, dargestellt in Bildern. Diese bestimmen auch die Traumphase im Schlaf. „Dadurch regeneriert die Seele. Ohne die Traumphase könnten wir nicht überleben, das Wachbewusstsein brauchen wir dagegen nicht zum Überleben“, sagt Edith Dörre. Das Wachbewusstsein sei ein großer Sortierer, alle Eindrücke würden eingeordnet, dadurch voneinander getrennt. „Märchen führen alles wieder zu einem Bild zusammen“, sagt die Märchentherapeutin. Dadurch lösen sie eine so gut tuende innere Ruhe aus. „Darum haben Kinder mit den grausamen Bildern der Märchen auch gar keine Probleme“, sagt Klaus Dörre. Sie wüssten intuitiv, dass der Tod in Märchen nicht für den Tod steht, sondern für einen Wandel, für einen neuen Anfang. „Viele Erzieher und auch die Therapeuten von verhaltensauffälligen Mädchen und Jungen fragen mich, wie ich es schaffe, dass die Kinder lange still sitzen, zuhören, mitsingen, frei von Aggressionen sind“, berichtet Klaus Dörre. Die Antwort lautet: die Ruhe stiftende, zugleich Kraft schenkende Wirkung der Märchen. „Besonders Kinder haben eine solche Sehnsucht, in die Ruhe geführt zu werden“, weiß Dörre.

Die heilende Wirkung der Märchen erstaunt den Erzähler trotz vieler Erfolge immer wieder selbst. Zum Beispiel bei starken Stotterern, die durch die Fortbildung zum Märchenerzähler lange fließend und frei sprechen können. Oder bei einer Frau, die sich nach einem Schlaganfall nichts merken und nichts mehr vortragen konnte. „Sie spricht heute frei vor einer großen Kirchengemeinde“, berichtet Klaus Dörre, der als Experte zum Bundeskongress der Stotterer eingeladen wurde. Auch diese von ihm geschilderten Erfolge sind dem Erkennen und Wiedergeben der Bilder der Märchen zu verdanken.

Ein großer Teil der Therapiearbeit betrifft die Trauer- und Hospizarbeit. Durch Märchen finden Sterbende eine erlösende innere Ruhe, trauernde Kinder lernen wieder zu lachen. „Mental verstehen wir den Tod nicht. In Märchen ist er nur eine unbedrohliche Wandlung, die wir annehmen“, sagt Edith Dörre. Märchen helfen auch in psychischen Notsituationen. Wut, Verzweiflung, Gewalt – „all das sind Themen von Märchen, die zeigen: All’ das darf sein. Man darf und soll auch mal die böse Schwiegermutter sein, um zu erkennen, wo man steht. Erst dann kann die Wende zum Guten erfolgen“, führt die Therapeutin aus. Als Beispiel dafür hat sie den Froschkönig gewählt. Das Buch mit selbstverfassten Zeichnungen liegt auf dem Holztisch im verwunschenen Garten vor dem Märchen-Atelier, das nur eine kleine weiße Kirche vom Meer trennt. Verschiedene Stufen dieses Märchens stehen für viele seelische Nöte. Wie der Widerwillen, dem Frosch gemachte Zusagen zu halten, aber auch die Aggression der Prinzessin, die den Frosch an die Wand wirft, anstatt ihn in ihr Bett zu lassen. „Soziale Werte sind wichtig, aber diese Situation zeigt, man muss auch Grenzen setzen und sagen können, bis hier und nicht weiter.“

Beide Dörres schöpfen durch ihre Arbeit und die Märchen selbst täglich Energie. Beide sind bis heute noch erstaunt über ihre magischen Begleiterscheinungen – wie den kleinen Frosch, der gerade zur Froschkönig-Therapie über den Rasen springt. „Wir sind fast am Meer, hier haben wir noch nie Frösche gesehen“, sagt Klaus Dörre.

Autorin: Anja Werner

 

Dieser Artikel erschien am 12.09.2013 im Flensburger Tageblatt.